Das Wesen der Zeit liegt im Ticken der Uhr

EINSTEIN & EINSTEIN
2 Personen-Stück für 1 Schauspieler
Uraufführung mit Bernd Schüren am 19. November 2021

Ein tiefsinnig-philosophisches Stück – humorvoll präsentiert – konfrontierte alle, die trotz Corona den Weg in das Evangelische Gemeindezentrum in Rheindahlen gefunden hatten, mit der Frage nach dem Wesen der Zeit. Wir kamen ins Grübeln, wir begannen über ein Phänomen nachzudenken, das uns bisher lediglich in unseren praktischen Lebensabläufen beschäftigt hatte; wir wären eigentlich gar nicht auf die Idee gekommen, über das Wesen der Zeit einmal tiefer nachzudenken – aber jetzt war es passiert: Unser Hirn begann zu arbeiten und die Frage ließ uns nicht mehr los: was bedeutet Zeit für uns?

Foto: Stefan Filipiak

Wir waren neugierig darauf, ob die beiden Einsteins uns diese Frage beantworten konnten. Aber zunächst geschah: nichts. Erst acht Minuten nach dem offiziellen Beginn der Vorstellung erschien Bert Einstein alias Bernd Schüren auf der Bühne, und nach der Frage, welche Gedanken man wohl in diesen acht Minuten gehabt haben könnte, erinnerte er daran, dass ein Sonnenstrahl genau acht Minuten braucht, um die Erde zu erreichen.
Zeit sei relativ, meinte er und es wurde deutlich, dass sich Bert für den Entwickler der Relativitätstheorie, den Physiker und Nobelpreisträger (1921) Albert Einstein (1879 – 1955) hielt. Sogar die Schuldgefühle dieses genialsten Physikers des 20. Jahrhunderts machte sich Bert zu eigen, hatte doch Albert Einstein, der sein Leben lang Pazifist war, 1939 in einem Brief an den damaligen amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt davor gewarnt, dass Nazideutschland womöglich eine Atombombe bauen könnte. Roosevelt hatte das sehr ernst genommen und Maßnahmen ergriffen, die letztendlich zum Bau einer amerikanischen Atombombe und damit zu dem verhängnisvollen Atombombenabwurf der Amerikaner auf Hiroshima und Nagasaki führten. Wenn Einstein auch nicht dafür verantwortlich war, so fühlte er doch tiefe Schuld, weil er diese Entwicklung in Amerika mit seinem Brief an Roosevelt angestoßen hatte – und diese Schuld meinte Bert Einstein, der sich mit seinem Idol Albert Einstein bis in die letzten Fasern seiner Gedanken identifizierte, ebenso empfinden zu müssen. Aber Bert blieb nicht dabei, sondern er begann vor der nach den 3G-Regeln trotz Corona zahlreich erschienenen und äußerst interessierten Zuhörerschaft, die er als Teilnehmende eines Volkshochschulkurses zum Thema Zeitreisen identifizierte, über die Zeit zu philosophieren.

Zeit verginge umso langsamer, je schneller man sich bewege und daher sei es auch möglich, durch entsprechendes Verhalten, Zeit zu gewinnen und seien es auch nur winzige Sekundenbruchteile. Seine Gedankengänge wurden jedoch jäh unterbrochen durch den störenden Telefonanruf einer Dame, die auf die Reparatur einer Kuckucksuhr wartete, die sie schon vor längerem in Auftrag gegeben hatte. Bert redete sich mit dem Hinweis auf erfundene Lieferschwierigkeiten heraus – in Wirklichkeit hatte er diesen für ihn unangenehmen Auftrag hinausgeschoben in der Hoffnung, dass sein Bruder Hendrik ihn erledigen würde. Er verschwand, um einen neuen Kuckuck zu schnitzen, und sein Bruder Hendrik erschien auf der Bühne, telefonierte mit der Dame wegen der Reparatur der Kuckucksuhr, wies die Zuhörenden darauf hin, dass weder er noch sein Bruder mit dem Physiker Albert Einstein verwandt oder verschwägert seien und stellte sich als Uhrmacher aus Leidenschaft vor mit den Worten: „Ich mache die Zeit für Sie sichtbar und hörbar – ich lasse die Zeit für Sie ticken“. Dann verschwand er im Laden, um Kundschaft zu bedienen, und Bert erschien – wie Albert Einstein mit Pfeife. Er präzisierte noch einmal seine Äußerungen zur speziellen Relativitätstheorie und meinte, er habe auch herausgefunden, dass er nicht so schnell altere, wenn er sich schneller bewege.

Foto: Stefan Filipiak

Daraufhin entließ er die Zuhörerschaft, die von dieser bewundernswert sensiblen Darstellung der beiden unterschiedlichen Charaktere durch Bernd Schüren beeindruckt waren, in eine kurze Pause, in der ich die Gelegenheit hatte, mit dem Düsseldorfer Autor und Regisseur des Stückes, Stefan Filipiak, über sein Konzept, das dem Stück zugrunde liegt, zu sprechen. Wichtig waren ihm die Spannungserzeugung durch zwei gegensätzliche Charaktere und die humorvollen Akzente, um mit diesen beiden Komponenten sein eigentliches tieferes Anliegen zu erreichen: Die Hinführung des Publikums auf die tiefgründige philosophische Problematik des Phänomens Zeit. Es stellt sich die Frage nach dem relativen Empfinden von Zeit bei dem Menschen, der überlegt: „Was bedeutet eigentlich Zeit für mich in meinem alltäglichen Lebensvollzug?“ Wir müssen uns auch fragen lassen, in wie weit die Zeit, wie wir sie empfinden, real ist, oder ob es sich um ein Produkt neurologischer Prozesse im Hirn des einzelnen handelt. Wie ist Zeit letztendlich zu werten? Das alles sind offene Fragen, die in einem solchen Stück natürlich nur angerissen werden können, um zum Nachdenken anzuregen, was durch dieses tiefsinnige aber zugleich auch humorvoll konzipierte Stück mit dem durch die beiden unterschiedlichen Charaktere erzeugten Spannungsbogen optimal gelungen ist: Hier kann das Publikum das Werk eines genialen Autors und Regisseurs erleben – dargeboten von einem congenialen Schauspieler.

Nach der Pause erscheint Hendrik, schwadroniert über den Frankensteinkomplex der Uhrmacher aus Leidenschaft, die sich wie Frankenstein fühlen, der doch angeblich künstliches Leben erschaffen konnte. Es folgt eine interessante Reise durch die Geschichte der Uhr beginnend vor über 5000 Jahren vor Christi Geburt mit Wasser- und Sonnenuhren bis zur Jetztzeit mit ihren Smartphones als Uhrenersatz was Hendrik Finstein als Uhrmacher aus Leidenschaft natürlich zutiefst bedauert.
Bert führt das Publikum dann aber unter Hinweis auf ein wegweisendes Zitat aus Afrika auf einen neuen Denkpfad: „Als Gott die Welt erschuf, schenkte er den Afrikanern die Zeit und den Europäern die Uhr“ und öffnet damit Wege zur Befreiung von der Tyrannei der Uhr.
Man müsse intensiv darüber nachdenken, dass die Gegenwart von uns wenig wahrgenommen wird, weil wir ständig die Gegenwart nur dazu benutzen, Vergangenheit zu verarbeiten und Zukunft zu planen. Der Philosoph Wittgenstein weist uns aber zu Recht darauf hin, dass ja derjenige, der wirklich in der Gegenwart lebt, ohne sich an Vergangenheit und Zukunft zu verlieren, in ihr so etwas wie Ewigkeit findet.Und nun gibt uns Bert auch noch einen wichtigen Hinweis, den wir wirklich auch mitnehmen sollten. Er meint, wir sollten versuchen, in der Gegenwart zu sein, denn dann seien wir außerhalb (der Tyrannei) der Zeit, wir würden uns also von ihr frei machen können.
Der Verweis auf einen Zenmeister, der dazu rät, „nur so da zu sitzen“, vervollständigte diese gegenwartsbezogenen Gedanken und da plötzlich klingelte wieder das Telefon. Aber Bert Einstein tat nichts. Er sagte: Wir tun nichts, wir sitzen nur.“ Damit hätte eigentlich dieses grandiose, zum eigenen Nachdenken anregende Stück zu Ende sein können, aber überraschenderweise meldete sich plötzlich ein Anrufbeantworter mit einer Stimme aus der Ferne, die ankündigte, jetzt gleich vorbeizukommen und die beiden Uhrmacher Hendrik und Bert Einstein zu besuchen. Die Stimme meinte: Wir haben uns viel zu erzählen!“ Wer war das wohl?
Lassen wir diese Frage offen und freuen uns über den nicht enden wollenden Applaus, mit dem diese wirklich unvergessliche Uraufführung endete. Das Stück wird in uns weiterwirken. Es hat uns nicht nur gut unterhalten und manchmal auch zum Schmunzeln gebracht, sondern zum tieferen Nachdenken angeregt, und das ist das eigentliche Ziel künstlerischen Schaffens sowohl des Autors als auch des Darstellers. Es wurde in dieser Uraufführung optimal erreicht.

Danke an Stefan Filipiak und Bernd Schüren für diesen unvergesslichen Premierenabend. Danke aber auch an Inge Schüren, denn er wäre nicht möglich gewesen, wenn sie nicht im Hintergrund als Souffleuse und Tontechnikerin unauffällig und professionell gewirkt hätte.

Hans-Ulrich Rosocha